(Selbst-)Liebe oder sexuell übergriffige Handlungen?
Vom natürlichen Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb
In der Natur macht nicht alles gleich Sinn, was sich beobachten lässt und widersprüchlich, paradox, erscheinen mag, solange man die Ursachen oder „Kräfte“ nicht versteht, die eine Erscheinung begründen: Wenn z.B. eine Population, die einen eng begrenzten Lebensraum besiedelt, unter Stress gerät – weil sich ihre Umgebungsbedingungen aus welchen Gründen auch immer so ändern, dass ihr Überleben dadurch gefährdet wird – neigt sie z.B. dazu, sich überproportional fortzupflanzen. Auf Unverständnis könnte das sowohl bei sexuell aktiven Menschen stoßen, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie unter Stress wenig Lust darauf haben, sich mit Gedanken an (ungewollten) Nachwuchs zu beschäftigen, als auch bei Menschen, die wissen, dass der Nachwuchs gestresster – statt unbekümmerter – Eltern häufiger krank zur Welt kommt oder ungesund aufwächst und deshalb vermutlich auch eine höhere Kindersterblichkeit aufweist. Dadurch – im Angesicht von Krankheit und/oder Tod in der eigenen Familie – steigt allerdings im Grunde selbstverschuldet das eigene Stresslevel noch weiter, und sorgt zusätzlich dafür, dass vor allem die „besonders Harten“, also auch emotional Abgehärteten, oder diejenigen überleben, denen erfolgreich die Flucht aus der Stresssituation gelingt (die also bereit sind, ihr vertrautes Terrain – ihre Heimat – zu verlassen und abzuwandern, um für sich und ihre Nachkommen eine neue Heimat finden).
Selbst unter Menschen, die prinzipiell in der Lage wären, Situationen zu entschärfen und gemeinsam nach weniger radikalen Lösungswegen zu suchen als der Natur ihren „opferbereiten“ Lauf zu lassen, ist dieses Phänomen noch verbreitet: vor allem in kriegsgeplagten Ländern, in denen die Bevölkerung auf das Überleben möglichst vieler Kinder angewiesen ist, von denen einige bereit sind, vor Ort unter ärmlichen Bedingungen auszuharren, und andere für ihre Familien wegziehen, um ihnen – mit Hilfe moderner (Telekommunikations- sowie Transport- oder Überweisungs-)Möglichkeiten – aus der Ferne Hilfe zukommen zu lassen.
Dieses offensichtlich evolutionär bedingte, instinktive Vorgehen bzw. universale (Unter-)Bewusstsein mag vielen Menschen vielleicht „Hoffnung“ machen; wenn nicht auf Besserung ihrer eigenen Situation, so doch darauf, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden als sie selbst. Wenn man „nur“ die natürliche Eltern-Kind-Bindung berücksichtigt und den mit der Trennung verbundenen Schmerz, mag es für den „gesunden Menschenverstand“, zu dem auch Empathiefähigkeit gehört, unverständlich erscheinen, dass Eltern Kinder in die Welt setzen, in der Absicht, sie alleine – ungeschützt – in die „große weite Welt“ zu schicken. Sobald es Menschen allerdings – weil sie die Hoffnung auf ihr eigenes Leben verloren haben – vor allem um das Überleben ihrer Familie, also der eigenen Nachkommenschaft geht, kann ihr eigener Selbsterhaltungstrieb Altruismus weichen. Damit wird ein selbstloses Handeln beschrieben, das den Anschein von bedingungsloser Liebe erwecken mag, aber meiner Meinung nach vielmehr ein Ausdruck dafür ist, dass Menschen sich selbst aufgegeben haben (also gar nicht mehr in der Lage sind zu lieben bzw. für ihre geliebten Menschen zu sorgen).
Vor allem in Krisenzeiten wird besonders deutlich, wer
- umfassend über menschliche Triebe und den Ursprung von Gefühlen, Sex und (natürliche) Verhütungsmethoden aufgeklärt wurde bzw.
- sich vorsorglich damit befasst hat, was Kinder brauchen, um sich zu gesunden Menschen entwickeln zu können – nämlich möglichst stressarme, fürsorgliche Umgebungen – und wer stattdessen
- wenig verantwortungsvoll mit der eigenen „Lust und Laune„, dem eigenen Liebesbedürfnis, umgeht.
Es ist kein Verbrechen, die eigenen Triebe zu unterschätzen, wenn man sie noch nicht am eigenen Leib erfahren hat, oder die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, im Notfall auch „ungeplante“ Kinder „erfolgreich“ großzuziehen – so dass sich niemand schuldig fühlen muss, der bzw. die einem natürlichen Fortpflanzungstrieb nachgegeben hat statt sich in erster Linie um die eigene Selbsterhaltung, also sich selbst und die eigenen körperlichen, geistigen oder seelischen Bedürfnisse zu kümmern.
Allerdings es ist unfair, andere Menschen nicht darüber zu informieren, was es bedeutet (bzw. bedeuten würde), ohne schlechtes Gewissen ein „guter“ Liebhaber oder eine „gute“ Liebhaberin bzw. eine verantwortungsvolle Mutter oder ein verantwortungsvoller Vater sein zu können: nämlich eigene Bedürfnisse zurückstellen zu können bzw. immer auch zu wissen, wie man sich selbst befriedigen bzw. wieder beruhigen kann, ohne andere womöglich ungewollt in Mitleidenschaft zu ziehen.
Im Grunde ist es aber nichts Neues mehr, dass jedes Kind – um aus seinem angeborenen, mehr oder weniger starken Urvertrauen, ein „gesundes Selbstvertrauen“ entwickeln und (Selbst-)Sicherheit gewinnen zu können – Aufmerksamkeit von Menschen braucht bzw. sucht, die seine Bedürfnisse und kindliche Neugier verstehen, also angemessen darauf reagieren, wenn es sie auf seine individuelle Weise äußert. Nur so kann es lernen, sich in einer Welt unter anderen Menschen angstfrei zu bewegen und so mit ihnen zu kommunizieren, dass dabei möglichst wenige unbeabsichtigte Missverständnisse entstehen können.
Es sollte auch nicht überraschen, dass man Kinder und ihre Entwicklung – ihre Talente, ihr Körperbewusstsein und Selbstvertrauen – fördern, sie aber statt zu unterfordern auch in ungesundem Maß überfordern kann, so dass sie die Freude daran verlieren und sich Trotz- oder (Aus-)Fluchtreaktionen angewöhnen.
Menschen müssen sich – um sich selbst und ihr eigenes Leben lieben zu können – sicher sein können, dass ihnen in dieser Welt jemand zur Seite stehen wird, wenn sie sich allein in Not fühlen. Sie müssen einen Weg sehen, sich selbst helfen oder auf das Wissen und die Erfahrungen anderer zurückgreifen zu können.
Sex (als Liebesdienst) kann dazu, genauso wie gemeinsamer Nachwuchs, als Werkzeug (oder Druckmittel) genutzt werden, um andere – vermeintlich – an sich zu binden. Mit (Selbst-)Liebe, also auch einem gesunden Egoismus (und Selbsterhaltungstrieb), hat das allerdings genauso wenig zu tun wie mit einem natürlichen (statt übersteigertem) Fortpflanzungsdrang. Das ist menschliches Kalkül. – Denn unser menschlicher Verstand ist sogar in der Lage, unterbewusst – völlig ohne dass wir uns dessen gewahr sind – zu rechnen, also abzuwägen, was uns einen persönlichen Vorteil verschaffen bzw. verhindern kann, dass wir uns erneut einem mit (unerfüllter) Liebe und/oder Sex verbundenen Trauma stellen müssten.
Vermutlich haben sich schon unzählige Menschen von ihren Gefühlen täuschen lassen bzw. wurden Opfer ihrer eigenen natürlichen Triebe oder der anderer, gegen die sie sich nicht wehren konnten. Diese im Hinblick auf das Vertrauen in andere Menschen enttäuschenden oder schmerzhaften Erfahrungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht von Unmenschen begangen wurden, sondern von Menschen, die sich bzw. ihre Bedürfnis nach Nähe oder ihre Lust auf Sex nicht 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr unter Kontrolle halten können.
Es soll bzw. kann kein Trost für alle Menschen sein, die in ihrem Leben – vielleicht auch durch Liebesentzug – bereits schwer misshandelt wurden; aber ich kann versprechen, dass alle – auch verletzte – Gefühle schwächer, nämlich zur Gewohnheit, werden, wenn man sich regelmäßig mit ihnen konfrontiert. So lässt es sich sowohl mit einem natürlichen Selbsterhaltungs- als auch Fortpflanzungstrieb irgendwann entspannt(er) leben bzw. ließe es sich vielleicht sogar auf gesellschaftlicher Ebene – wenn mehr Menschen den Mut hätten, nicht nur offen, sondern auch in aller Öffentlichkeit darüber zu reden, wie unmöglich es im Grunde ist, allen Erwartungen gerecht zu werden, die Menschen ohne (wissenschaftliche) Menschenkenntnis und/oder Sinn für unterschiedlichste natürliche Bedürfnisse an andere stellen.
P.s.: Ich halte es übrigens für geistigen Missbrauch, Menschen Schamgefühle für ihren Körper, mit dem sie auf die Welt gekommen sind, „anzutrainieren“, genauso wie ich die Pflicht zum ehelichen Sex (oder die Regel, ihn nicht ohne kirchliches oder staatliches Einverständnis haben zu dürfen) für körperlichen Missbrauch halte, oder das persönliche Versagen, sich nicht selbstständig umfassend darüber aufzuklären, was der eigene Körper von Natur aus braucht, um sich gesund entwickeln, im Alter gesund halten und nach Verletzungen wieder vollständig heilen zu können.
P.p.s.: Liebe und Sex nur zum eigenen (spielerischen) Vergnügen oder zur Befriedigung angestauter Gefühle wie Wut oder Trauer zu benutzen statt dazu, eine – körperliche, geistige und/oder seelische – Bindung aufzubauen, zu vertiefen, neu zu beleben oder zu erhalten, ist für mich genauso missbräuchlich wie ihn als menschliche „Schwäche“ zu verteufeln und den eigenen Körper dazu verdammen zu wollen, ohne ihn leben zu müssen.
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Dank für das Foto gebührt Colin White (auf Unsplash)!
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