(M)Ein perfektes Leben
Oder frei nach meiner Oma „Zufriedenheit macht reich – gib‘ Dich nur nicht mit allem einfach zufrieden“
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen mir begegnen, die offen zugeben, dass sie entweder faul sind oder eigentlich überhaupt keinen Ehrgeiz haben und im Grunde nur „möglichst“ gut – gesund, glücklich und zufrieden – leben möchten.
Warum machen wir Menschen uns dann eigentlich so viel Stress, der mir noch viel häufiger begegnet? Warum lassen wir ihn uns machen, sind damit unglücklich und leiden dafür unter Stresserkrankungen wie hohem Blutdruck, verengten Gefäßen, Essstörungen, Diabetes u.v.m. – wenn das doch freiwillig niemand wählen würde?
Wir brauchen Stress im Leben, um uns lebendig zu fühlen. Stressreaktionen sind sinnvoll, wenn es ums nackte Überleben geht, wenn wir nicht vor Kälte oder zu großer Hitze, vor Überschwemmungen oder Wasser- und Nahrungsmangel geschützt sind. Wenn wir es geschafft haben, einer dieser akuten (Lebens)Gefahren zu entkommen, werden wir dafür mit der Nachwirkung dabei ausgeschütteter Endorphine belohnt. Zu viel „des Guten“, also zu viele körpereigene Drogen, verlieren allerdings irgendwann ihre Wirkung. Außerdem brauchen Lebewesen nach Stress eine Erholungs- oder Regenerationspause, die Menschen sich aber viel zu selten auch nehmen, da „moderner“ Stress ja vornehmlich psychisch stattfindet und viele sich nicht eingestehen wollen oder können, dass ihre Psyche überbelastet wurde.
Bei den wenigstens Menschen geht es also bei der „täglichen Unzufriedenheit“ oder anderen Stressauslösern um das nackte Überleben ihres Körpers. Es ist das zukünftige Leben, das viel mehr Menschen Sorgen bereitet; Sorgen um das, was sie noch erreichen, tun, sehen, hören etc. wollen. Manche scheinen dabei völlig zu vergessen, dass sie jeden einzelnen Tag am Leben sind und auch am Leben erhalten werden müssen, wenn sie die Zukunft überhaupt noch erleben wollen.
Für mich hat es noch nie Sinn gemacht, das eigene Leben nach Zielen in allzu ferner Zukunft auszurichten – vor allem den von anderen Menschen angepriesenen Zielen, die mir aus welchen Gründen auch immer, eher suspekt waren oder die ich aufgrund meiner Voraussetzungen schon sehr früh oder ein bisschen später als unerreichbar eingestuft habe.
Ich habe mir z.B. selbst eingestehen müssen, dass
- ich weder als Prinzessin (weil ich zu wenig Wert auf ein „ordentliches Äußeres“ lege bzw. meine Maßstäbe dafür einfach anders als mehrheitlich sind), noch als Tierärztin nach heutigem Maßstab tauge (weil ich Tiere dazu vorher als Versuchsobjekte missbrauchen muss);
- ich mir nicht zutraue, eine aufopferungsvolle Ehefrau und Mutter zu sein, die mit allen Macken potentieller Ehegatten oder Sprösslinge gut umgehen könnte (ich habe mir viele Macken ausgemalt!);
- ich außerdem nicht so sicher bin, wie lange die Natur uns überhaupt noch erträgt und ihre Ausbeutung mitmacht. Ich kann mir meine Sorgen, dass unser weltweites Ökosystem vielleicht irgendwann an uns Menschen zusammenbricht, immer noch nicht „schön“ oder „wegreden“, wenn ich mir die Welt und viele Menschen um mich herum betrachte (vielleicht war das auch einer der Gründe, weshalb ich Biologie studiert habe – um noch so viel wie möglich über Tiere und Pflanzen zu lernen oder sogar mithelfen zu können, sie zu noch möglichst lange zu erhalten);
- Natur- und Umweltschutz in einer „Wachstumsgesellschaft“ überhaupt nicht effektiv geleistet werden kann: solange „freiwillige Verzichte“ verpönt sind (weil sie entweder mit „Zwängen“ oder „Verboten“ gleichgesetzt werden und sich anscheinend kaum jemand vorstellen kann, dass jemand „bewusst, also aus Überzeugung“ die sogenannten „schönen Dinge“ des Lebens boykottiert) oder solange „UmweltsünderInnen“ ihr Gewissen mit Geldspenden oder dem (unnötigen) Kauf „umweltfreundlicher“ Konsumgüter beruhigen können, wird jede „Umweltpolitik“ im Sande verlaufen und jede Umwelttechnik nur immer größere Schäden anrichten;
- die Pharmaindustrie, die ich mir anschließend als meine Arbeit- und GeldgeberIn überlegt hatte, nicht an möglichst nebenwirkungsfreien oder effektiven Heil-, sondern an Symptombekämpfungsmitteln arbeitet, die Menschen nicht gleich umbringen, sondern als zukünftige KundInnen halten;
- (Tier-)Heilpraktikerberufe mir die Biologie zu wenig berücksichtigen, sondern entweder wie die Schulmedizin versuchen, Symptome (möglichst nebenwirkungsarm) zu unterdrücken, oder wie „Seelenklempner“ die Selbstheilungskräfte des Körpers mit „Psychotricks“ anzuregen;
- ich mich – weil ich ja irgendwann ziellos, also nur nach Lust und Laune studiert, promoviert und mich weitergebildet habe – völlig falsch qualifiziert habe für den aktuellen Arbeitsmarkt.
Unzufrieden mit meinem Leben war ich aber noch nie.
Statt großen Zielen hatte ich immer genug Möglichkeiten: mir irgendwie mit wenig Geld – das ich mir unter anderem damit verdient habe, Arbeit zu leisten, die mir sinnvoll erschien, also auch Spaß gemacht hat – die Zeit vertreiben; das Leben und die Natur erkunden; Tiere, Menschen und Pflanzen kennenlernen, um meine Erfahrungen vielleicht einmal weitergeben zu können, und mich dabei – körperlich, geistig und seelisch – möglichst gesund halten (denn ich will mir nicht von ÄrztInnen sagen lassen müssen, was mir fehlt oder welche Medikamente es gibt, um z.B. körperliche Symptome zu unterdrücken, Ernährungsmängel auszugleichen oder mich möglichst lange am Leben zu erhalten).
Zu tun gab und gibt es immer noch etwas für mich. Irgendwem kann ich immer mal wieder weiterhelfen. Irgendjemand gibt mir dafür immer wieder so viel zurück, dass ich gerade nicht bei Vater Staat oder auf der Straße betteln gehen „muss“ (was in diesem Land ohnehin niemand nötig haben sollte; aber eine gerechte Arbeits- und Güterverteilung darf man in Ländern vermutlich nicht erwarten, in denen Erfolg im Leben am Einkommen gemessen wird).
Ich habe zum Glück keine Verantwortung für Kinder oder Haustiere zu tragen, helfe anderen aber gerne dabei, von ihrer zu pausieren. Ich habe ein paar längerfristige Ziele im Leben, von denen ich aber auch früher oder später Erfolg verspreche: ich konzentriere mich z.B. darauf, einen verantwortungsvollen Umgang mit Obst- und Gemüsepflanzen bzw. Kräutern und Gewürzen und einige andere neue Dinge zu lernen, mit denen ich gesund und glücklich und möglichst frei und unabhängig von Geld leben kann.
Freiheit bedeutet für mich nicht, unabhängig von anderen Menschen, also alleine zu leben – das ist für mich utopisch, weil jede/r Menschen irgendwann einmal Rat oder Unterstützung gebrauchen kann.
Nein! – Freiheit und Glück bedeutet für mich, dass jede/r einzelne Mensch
- so sein darf, wie er/sie möchte;
- sich nicht für andere verdrehen oder verstellen muss;
- seine/ihre Meinung offen sagen und auch auf Missstände und Probleme hinweisen darf – ohne dass sich die, die davor gerne die Augen verschließen würden oder nicht darüber sprechen möchten, persönlich angegriffen fühlen und deshalb zu ihren „Waffen“ greifen;
- weiß, weil er/sie es gelernt hat oder lernt, wie man gewaltfrei kommuniziert und miteinander lebt (ohne dass immer irgendjemand das Sagen haben muss).
Ich bin überzeugt, dass jede/r die Freiheit und das Glück anderer Menschen respektieren und sich in Streitfragen einer demokratischen Mehrheit fügen kann, solange er/sie selbst auch sicher sein kann, dass alle anderen ihn/sie genauso würdigen und nicht versuchen, sich bei der erstbesten Gelegenheit über sie/ihn zu stellen (oder auch, sich unterzuordnen). Ich bin sicher, alle Menschen würden auch ohne Zwang Dinge tun, die sie persönlich nicht für notwendig halten, von deren Notwendigkeit sie aber andere – mit offener Ehrlichkeit – überzeugen können und gegen die jederzeit Einspruch erhoben werden darf, sobald sich herausstellt, dass sie doch nicht notwendig oder zielführend sind.
Ich persönlich halte es nicht für notwendig, die ehrgeizigsten (angeblichen) „Gesundheits- und SicherheitsfanatikerInnen“, die führenden Technik-Begeisterten und radikalsten UmweltschützerInnen (mit Hilfe von Technologien) im Lande über mein Leben bestimmen und sie einen (technischen) Überwachungsstaat errichten zu lassen. Ich sehe keinen Anlass, nach deren „hohen Zielen“ oder den „besten“ Produkten zu streben, die sie mir anpreisen (müssen). Wenn etwas wirklich glücklich und zufrieden macht, muss es nicht aufdringlich propagiert werden, sondern würde – auch mit wenigen Argumenten – bald alleine für sich sprechen. Nur glauben viele Menschen – weiß der Himmel warum – immer noch am ehesten dem/der, der/die am Lautesten schreit, wenn schon nicht der „großen Klappe“ in der Schule, dann spätestens dem/der, der/die sich damit einen Doktortitel gemacht oder es in die Politik oder ins Fernsehen geschafft hat.
Mir erscheinen „echte“ Menschen, die ich kenne oder denen ich gegenüber stehen kann, vertrauenswürdiger. Ich vertraue Menschen nicht vollends, ohne mir möglichst eine zweite Meinung zu ihnen eingholt zu haben, schon gar nicht Menschen, die einen besonderen Titel oder eine besondere Stellung im Staat innehalten, ohne ihnen genau zuzuhören und mich über sie und ihre Titel, Ehrungen und Preise informiert zu haben. Für mich kann es ohnhin nur ein paar wenige, besondere Menschen geben, denen ich mein vollstes Vertrauen schenke. Zu meinem Glück weiß ich heute – dank ihnen – ziemlich gut, was ich in meinem Leben brauche und wovon ich etwas mehr oder weniger gebrauchen könnte.
Ein perfektes Leben ist für mich ein Balanceakt zwischen den eigenen Hoffnungen und Erwartungen, Wünschen und Träumen und deren realistischer Einschätzung und Umsetzung. Wer zufrieden mit der eigenen Balance sein und nicht immer wieder und lebenslang herunterfallen möchte vom Seil, muss sich vor allem der eigenen Möglichkeiten und Grenzen (im Leben) bewusst sein, nutzt – je nach Übungstyp – möglichst wenige oder möglichst viele Situationen zum Üben, um zu lernen, wie weit er/sie jeweils gehen kann, um am Ende sicher die Haltung bewahren zu können, und wagt dann erst weitere Schritte.
Ich liebe es, die vielen SeiltänzerInnen um mich herum zu beobachten, weil ich überzeugt bin, dass ich immer mal wieder etwas Neues entdecken werde, was es auch mir wert ist, ausprobiert zu werden: die mutigeren oder übermütigen; die vorsichtig-ängstlichen; die, die in meinen Augen eher eine Lachnummer abgeben, aber zufrieden mit sich sind; oder die, die gar nicht zu merken scheinen, welch großartige Show sie abliefern.
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Dank für das Bild gebührt meiner – neben meinem Lieblingsfotografen – liebsten Künstlerin, Suleika Bachmann (in der Schweiz)!
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